Für den Laien liegt der Fall klar auf der Hand: Ein Kind, das mit einer außergewöhnlich hohen Intelligenz gesegnet ist, wird in der Schule außerordentlich gute Leistungen bringen. Experten und die Schulrealität widersprechen dem: Tatsächlich befinden sich unter den Hochbegabten etwa 15 Prozent Underachiever. Das sind Schüler und Schülerinnen, die in ihren Leistungen deutlich unter ihrem Potenzial bleiben. Underachievement ist also ein in jedem Klassenraum vorhandenes Phänomen. Es stellt Eltern, Pädagogen und Schulpsychologen vor große Herausforderungen.
Underachievement kommt auf allen Leistungsebenen vor
Underachievement ist kein privilegiertes Problem der Hochbegabten. Minderleistung im Sinne eines nicht ausgeschöpften Potenzials kommt auf allen intellektuellen Leistungsebenen vor. Aber bei Hochbegabten fällt die Diskrepanz zwischen der Intelligenz und ihrer Nutzung besonders ins Gewicht. Die Lehrer und Eltern reagieren mit Unverständnis oder Vorwurf, weil die reichlich vorhandenen Möglichkeiten nicht genutzt werden. Oder das Underachievement fällt nicht als solches auf, weil der Schüler oder die Schülerin durchschnittliche Leistungen bringt. Am meisten leidet der betroffene Mensch selbst unter der Minderleistung. Oft sind es Verhaltensauffälligkeiten, die Eltern, Lehrer und Therapeuten schließlich zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen Underachievement führen.
Die Merkmale von Underachievement
Eine Klasse mit 30 Schülern besitzt drei bis vier Kinder, die unter Underachievement leiden. Das ist viel. In den meisten Fällen wird dem Lehrer gar nicht auffallen, dass diese Kinder unter ihrem Niveau bleiben – denn er kennt ihr wirkliches Niveau nicht. Um so wichtiger ist es, sich für die Merkmale von Underachievement zu sensibilisieren:
- auffallend selbstkritisch
- gelangweilt
- schulverdrossen
- unaufmerksam
- stressanfällig
- ungeduldig
- ängstlich
- emotional
Aber auch
- kreativ
- schnell auffassend
- querdenkerisch
- einfallsreich
- abstrahierend
Die Merkmale von Underachievement der Hochbegabten
Für das Underachievement der Hochbegabten lassen sich noch einige spezialisiertere Leitmerkmale formulieren:
- besondere Leistungen werden außerhalb des Schulunterrichts bewiesen
- neue Unterrichtsinhalte werden schnell aufgefasst und bald interesselos wieder fallen gelassen
- plötzliche erhellende Beiträge trotz vorherrschender geistiger Abwesenheit
- gute Antworten bei direkter Ansprache
Ursachen von Underachievement
Underachievement ist ein lerngeschichtlich entstehendes Phänomen. Es hat nichts mit externen Ursachen zu tun – biografisch bedingte Lernkrisen beispielsweise im Umfeld einer Scheidung der Eltern lösen sich mit der externen Ursache wieder auf. Die Fachwelt geht von einer Vielzahl möglicher Entstehungsgründe. Darum müssen die Hintergründe in jedem Einzelfall differenziert betrachtet werden:
- unzureichende Unterstützung durch die Umgebung/das Elternhaus, weil die Hochbegabung unerkannt geblieben ist
- Teilleistungsschwächen wie Legasthenie, durch die ein hochbegabtes Kind stigmatisiert wird
- Unterforderung in der Schule durch starre, an die Norm angepasste pädagogische Konzepte
- fehlende Lernstrategien
- insbesondere bei Mädchen: persönliche Zurückhaltung der Begabung, um nicht ‚aus der Rolle zu fallen‘
- Angst vor Neid und Mobbing der Schulkameraden und dementsprechende Anpassung an die Leistungsnorm
Testverfahren und Therapieansätze von Minderleistung
Die Psychologie zählt das Ausschöpfen des eigenen Potenzials zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Beim Underachievement wird dieses Grundbedürfnis dauernd verletzt. Daraus entsteht ein hoher Leidensdruck. Das Selbstwertgefühl wird beschädigt, es folgen Minderwertigkeitskomplexe und Depressionen. Eltern und Pädagogen stehen im Umgang mit Underachievement-Kindern vor großen Herausforderungen. Hilfreich ist ein wacher Blick, der die Individualität des Kindes wahrnimmt. Wenn die Merkmale für Underachievement bekannt sind, lassen sich schneller Schlussfolgerungen anstellen. Grundlage für alle Maßnahmen muss eine testpsychologische Abklärung mit einem Intelligenztest für Kinder sein. Es haben sich mehrere spezialisierte Intelligenztests etabliert, die für die intellektuelle Leistungserfassung von Hochbegabten geeignet sind (vor allem der WISC-V). Die Hilfe für Schüler und Schülerinnen mit Minderlseistungsproblemen ist ebenso vielseitig wie die Symptomausprägungen und Entstehungsursachen. Eines ist sicher: Eltern, Therapeuten und Pädagogen, die Einfluss auf minderleistendes Verhalten nehmen wollen, benötigen einen langen Atem. Fachleute gehen von einem Zeitraum von zwei bis vier Jahren aus. Dabei gelingt die Wendung zum Positiven umso schneller, je eher das Underachievement entdeckt wird. Maßnahmen zur Therapie von Minderleistung können sein:
- Psychotherapie, um das beschädigte Selbstbild zu heilen
- stressreduzierende Verhaltensweisen vermitteln, Entspannungstechniken
- Lerntechniken und Zeitmanagement üben, damit sich der schnelle und unstete Geist des hochbegabten Kindes nicht verzettelt
- Motivation fördern
- den Klassenverband stärken, Ausgrenzungen vermeiden
- Prüfungsängste abbauen
- Elternhaus und Umgebung mit ins Boot holen und entsprechend über das Phänomen Minderlseitstung beraten
- Wissenslücken durch Nachhilfeunterricht schließen, wenn sich das Underachievement über einen längeren Zeitraum hingezogen hat
Fazit
Underachievement ist kein Schicksal. Der wichtigste Schlüssel zur vollen Leistungsausschöpfung liegt in dem wachen, respektvollen und motivationsfördernden Blick der Eltern und der Pädagogen auf das hochbegabte Kind.
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